Van Gogh, Nietsches Schnauzbart und die Popomo

Rotarischer Vortrag Wolfgang Lettl (1990)

Wenn ich ihnen, wie es der Brauch ist, Interessantes aus dem Umfeld meiner Berufstätigkeit erzählen wollte, wären mir etwa folgende Themen zur Verfügung gestanden: „Die Situation der Malerei im ausgehenden Jahrtausend“, „Die Postmoderne“, „Die notleidenden Künstler und die Künstlersozialversicherung“ oder „Der Einfluss der japanischen Banken auf den Kunstmarkt“.

Mit all diesen Themen aber wäre ich überfordert, teils weil sie zu komplex sind, teils weil sie mich nur am Rande interessieren; ich müsste mir Bücher und sonstige Unterlagen besorgen und Sie dann mit einer 20 Minuten-Zusammenfassung beglücken oder langweilen, aber das ist nicht meine Sache, sowas können Sie auch in der Zeitung lesen.

Der Ausweg, wenn man nicht weiß, was man reden soll ist der Eigenbericht; üblicherweise bringt man dann zu Beginn der Rotary-Laufbahn, damit die anderen wissen, wer man ist oder zu sein glaubt oder gern wäre. Nach fast 20-jähriger Clubzugehörigkeit, immerhin ein Fünfteljahrhundert, kann es aber doch angebracht sein, den damaligen Eigenbericht zu ergänzen und dabei zu sehen, wie weit man gekommen oder abgedriftet ist und ob vielleicht die Clubangehörigkeit etwas dazu beigetragen hat.

Als ich damals von Freund Wiesenthal aufgefordert wurde, dem Club beizutreten, war ich zwar erstaunt, überlegte aber nicht lange, denn zwei Rotarier waren es, die mir immer geholfen hatten und mir Mut machten, wenn ich mir schwer tat: es waren dies Dr. Lieb, damals Direktor der Städtischen Kunstsammlungen, und Dr. Giuliani, mit dem mich Dr. Lieb bekannt gemacht hatte.

Ich gehörte nämlich nicht zu denen, die den Rahm abschöpfen durften bei den 2% für die „Kunst am Bau“, denn ich hatte keine Freunde bei den Allermächtigen der Baubehörden.

Dass Rotarier zu sein eine Ehre sein sollte, interessierte mich nicht sonderlich, ich hatte keinen Bedarf in dieser Richtung, auch sah ich Rotary doch zu realistisch, um über seine erhabenen Forderungen und Ziele und das viele Papier in allzu helle Begeisterung auszubrechen, aber bei Rotary aufgenommen zu werden bedeutete mir Anerkennung, und die hatte ich schwer nötig, denn ich litt unter einem beachtlichen Mangel an Überheblichkeit: ich unterschätzte mich, und das soll man auch nicht.

Ich darf hier einen Traum zum Besten geben (schon wieder einmal), einen Traum, der meine damalige Meinung von mir selber bezeichnend schildert6 und mich offensichtlich zu einer Korrektur bewegen wollte. (Siegmund Freud bitte ich, ein Auge zuzudrücken, wenn ich ihm jetzt als Hobby-Traumdeuter ins Handwerk pfusche).

Der Traum, der sich immer wiederholte, war ganz kurz und einfach: Ich bin schon längst Feldwebel und laufe immer noch mit Unteroffiziers-Rangabzeichen herum.

Ich überlegte, was denn der Traum von mir wolle, und sagte mir: das kann doch nur bedeuten, dass ich mehr bin, als ich nach außen zu erkennen gebe, sozusagen ein Tiefstapler, ohne es aber selbst zu wissen. Und ich beschloss, ein bisschen mehr von mir zu halten. Die Quittung kam prompt: Im nächsten Traum war ich Major in schnieke feiner Uniform.

Rotary gab mir aber auch Gelegenheit, gescheite und interessante Leute kennenzulernen, mit denen ich sonst kaum zusammengekommen wäre, und gar unter dem Zeichen der Freundschaft, und die außerdem zuhören müssen, wenn ich etwas sage, was wiederum von mir verlangte, so alljährlich einen Vortrag zu halten und das hieß: Hemmungen überwinden, die Sprache ein bisschen kultivieren und meine Gedanken, die sonst so ungebunden und ungeordnet in der Gegend herumschwirrten, unter Kontrolle zu bringen und der Kritik, zunächst meiner eigenen und dann der der Freunde, zu unterwerfen. Ich neige nämlich dazu, und diese Neigung ist bei Malern weit verbreitet, ganz gern allein zu sein und jeder Geselligkeit aus dem Weg zu gehen. Das hängt ein bisschen mit Originalität zusammen und ein bisschen mit Bequemlichkeit. Man hockt vor seiner Staffelei, allein nur mit sich selber und der Einbildung, man sei doch wohl ein Genie, wenn auch ein bislang noch verkanntes, und lässt in dieser trägen Isolierung die Sprache verkommen. Wenn man aber nicht reden kann ist man entweder dumm oder man gilt als dumm. Und als dumm zu gelten, vor allem, wenn schon die Grenze zu „doof“ überschritten wird, kann auch für einen Maler nicht nur von Vorteil sein.

Ich wäre jetzt beinahe in den Ton eines Schulaufsatzes gefallen und hätte noch erstens zweitens drittens aufgezählt, was ich sonst noch Rotary zu verdanken habe an Horizonterweiterung etwa und freundschaftlichen Kontakten und deren Auswirkungen, aber das spare ich mir, schließlich schreibe ich diesen Vortrag in Apulien, draußen scheint die Sonne, der Frühling ist hier viel schöner als in Deutschland, dort ist er eher süßlich und macht so ichweißnichtwassollesbedeutentraurig, hier ist er leuchtend und stark und lässt einen großen Sommer erwarten. Ich wollte, kurz gesagt, nur aufzeigen, wie sich Rotary für mich ausgewirkt hat, und vielleicht freut es Sie, zu hören, wie Sie auf diese Weise ein wenig zur Förderung der Kunst beigetragen haben.

Soll ich doch noch etwas zur Situation der Malerei zu Ende des 20. Jahrhunderts sagen? Also ja, aber nicht aus einem weiten Horizont heraus, den ich nicht habe, sondern aus meinem engen Blickwinkel. Da muss ich zunächst etwas zum Blickwinkel sagen: Ich setze mich gern zwischen alle Stühle. Das hängt noch mit meinem vorhin erwähnten Hang zur Tiefstapelei zusammen. Ich habe zwar gesagt, dass ich nach Aufschlüsselung meines Feldwebeltraums da eine Korrektur angebracht habe, aber wissen Sie, wenn man sich in Bezug auf sein Verhalten sich selbst gegenüber von einem Traum korrigieren lässt, heißt das zunächst, dass man ab jetzt sein Verhalten richtig bewertet, es heißt nicht unbedingt, dass man es ändert. Aber wem sage ich das: Sie haben auf diesem Gebiet sicher Ihre eigenen einschlägigen Erfahrungen.

Ob Sie aber alle im „Zwischendenstühlensitzen“ Ihre eigenen Erfahrungen sammeln konnten, darf ich bezweifeln und deshalb bitte ich Sie, sich vorzustellen, was dieser etwas vertiefte Standort bietet: Man sieht nicht die feinen Frisuren, überhaupt von den Gesichtern hauptsächlich den Speck am Kinn und die Nasenlöcher, und da wirkt alles vornehme Gehabe nicht mehr so recht überzeugend; hingegen sieht man, was unter der Tischlinie ist, sicher nur ein begrenzter Teilaspekt, aber da gibt es kein Verstellen und Vortäuschen und es riecht auch anders.

Also: Van Gogh ist 100 Jahre tot. Mit 37 Jahren hat er sich erschossen. Einer von vielen irre gewordenen zu Ende des 19. Jahrhunderts. Verrücktwerden lag damals in der Luft bei der geistigen Elite. Das hatte wohl auch seine Gründe, Einer, der glaubte, seinen Mund unter einem ganz martialischen Schnauzbart verstecken zu müssen, - oder sollte der Schnauzbart die Vorstellung von Kraft und Gewalt erzeugen? – der also hatte behauptet, Gott sei tot, und er, der Schnauz, habe ihn getötet. So ein Blödsinn! Ich muss zwar gestehen, ich habe das Buch auch nicht gelesen, und ich muss deswegen offenlassen, ob er´s vielleicht anders gemeint hat. Aber wie denn?

Jedenfalls hat man´s ihm so abgenommen, wie es dasteht, und man hat´s ihm gern abgenommen. Dann hat man besten Gewissens alle Teufel losgelassen, weil es die nachweislich auch nicht mehr gegeben hat. Seitdem müssen die Deutschen bei gegebenen Anlässen und überhaupt Demutshaltung einnehmen, weil die ihrigen es am schlimmsten getrieben haben. Das soll jetzt wieder anders werden, heißt es.

Ach, ich war ja bei Van Gogh. Er war nur ein bisschen verrückt und außerdem ein Genie, wenn ich diese ungenaue Bezeichnung verwenden soll. Verrücktsein kann durchaus mit schöpferischen Fähigkeiten einhergehen und diese steigern oder sogar erst begründen. In einer weitgehend spießerisch-rationalistisch bornierten Gesellschaft, als solche man wohl die Gesellschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. hinein bezeichnen kann, wenn auch grob vereinfachend, kann der ungefährlich verrückte erscheinen als einer, der eine wundervolle neue Welt aufzeigt, neue Horizonte aufreißt. Ungefähr so war es bei Van Gogh.

Hat übrigens jemand Anstoß genommen, weil ich die Behauptung von Herrn Prof. Nietzsche, Gott sei tot, als Blödsinn bezeichnete? Was ist denn monströser: zu behaupten: „Ich habe Gott getötet“ oder zu behaupten: „Der Herr Philosophieprofessor Nietzsche hat Blödsinn verzapft“?

Also: Spätestens seit Van Gogh haben clevere Leute herausgefunden. Dass man schöpferischer Leere und Trägheit mit ein bisschen Verrücktheit auf die Beine helfen kann, und wenn man schon nicht verrückt ist, muss man halt so tun, als ob. Eine gewisse dekorative Verrücktheit erwartet die Gesellschaft, Presse und Fernsehen schreiben ihr das vor. (Ich gestehe, dass ich zu Anfang meiner Laufbahn, als ich überhaupt noch nicht richtig malen konnte und noch keine Vorstellung hatte, wie es weiter gehen sollte, auf verrückt experimentierte auch deswegen, weil das die einzige Chance bot, auf mich aufmerksam zu machen). Die wenigen echten und die vielen gemachten Verrückten haben in unserem Jahrhundert ein breites Spektrum entfaltet: Dali spielte als erster großartig den Hanswursten und viele folgten ihm darin. Und weil der Andrang immer größer wurde und man doch unbedingt auffallen musste, erfand man schließlich gigantische Unsinn-Aktionen: das Fernsehen braucht immer etwas zum Gaffen.

Abgesehen davon, dass wir schon in der Schule gelernt haben, dass Genie und Wahnsinn gefährlich nah beisammen wohnen, wenn nämlich Genie mit dem Göttlichen zu tun hat, das Göttliche den Menschen aber überfordert und über den Haufen wirft; oder ein Stockwerk tiefer: wenn man versteht, dass biedere Angepasstheit jede Kunstrichtung in fadem Mief ersticken lässt: abgesehen also von dieser richtigen Erkenntnis sehnt sich unsere geordnete, ordentlich organisierte volltechnisierte gelangweilte Fernsehverblödungsherde irgendwie nach dem Außerordentlichen, nach dem, was es außerhalb ihres Ordnunungspferches noch gibt. Diese Sehnsucht schreit nach dem Künstler, von dem man annimmt, dass er nicht zum Pferch gehört. Er darf alles, bis zu einer bestimmten Grenze natürlich, was ein anständiger Mensch sich nicht traut. Er muss Ordnungen umwerfen, Tabus brechen und darf sich benehmen wie er will, nur nicht vernünftig. Verrückt gilt als modern und modern ist gut in der Kunst.

Oder ist da doch etwas anderes? Ist das verrückte in der Kunst vielleicht der Spiegel unserer „Gott ist tot“ -Gesellschaft? Oder ganz banal: ist es nur eine alberne Mode und sind wir immer noch die alte Mitläufer-Gesellschaft, die sich zwar nicht vor dem Teufel fürchtet, aber davor, eine eigene Meinung haben zu sollen?

Wolfgang Lettl - Sonnenblumen - ca. 1950 - 67x78 cm
Wolfgang Lettl - Sonnenblumen - ca. 1950 - 67x78 cm

Ach so, Van Gogh. 70 Millionen für die Sonnenblumen. Soll das ein Grund zur Aufregung sein? Ob der Herr Maier die 70 Millionen hat und der Herr Huber die Sonnenblumen oder Herr Huber die 70 Millionen und Herr Maier die Sonnenblumen ist ziemlich egal, Hauptsache, die Sonnenblumen werden sorgfältig gepflegt und das ist bei diesem Preis anzunehmen. Irgendwann kommen die Sonnenblumen dann doch in ein Museum und das ist gut, da kann sie dann jedermann bewundern oder begaffen, ja, begaffen, denn was einmal so viel gekostet hat, muss man gesehen haben. Ärgerlich ist nur, dass der arme Van Gogh rein gar nichts davon hatte. Aber dafür hat er sich ja 1890 erschossen, und das ist doch ein schöner Anlass für eine Gedächtnisausstellung.

Nach einer früheren Definition, was in der Kunst „modern“ sei, ist Van Gogh nicht mehr modern. Denn da galt: „Moderne Kunst“ ist die Kunst der letzten 100 Jahre. „Moderne“ war also keine Stilbezeichnung, denn sie umfasst eine Vielfalt von Stilen, sondern eine Zeitzuteilung.

Aber was interessiert uns denn die Moderne, wir sind doch schon bei der Postmoderne! – Was ist das? So etwas ähnliches wie „Super 2000“. Ein Werbeschlagwort derjenigen, die uns weismachen wollen, sie stünden vorner als ganz vorn, als Superavantgarde schon weit in der Zukunft.

Bei der Architektur allerdings ist das anders. Da war die „Moderne “keine Bezeichnung für Vielfalt und Stilfreiheit, da herrschte unumschränkt die Nachbauhaussichtbetonarchitektur, rechtwinklig an Leib und Seele und kein Schnickschnack. Das gilt jetzt im Zeichen der Postmoderne nicht mehr. Jetzt darf in der Architektur die Vielfalt einkehren, vom Warenhausdekor bis Walt Disneyland und Bögelchen und Erkerchen sind auch wieder gestattet und ein bisschen Kitsch macht auch nichts. Immerhin menschlicher als der Sichtbeton.

Postmoderne? Ich bin schon weiter. Immer vorn muss man sein: vorn, vorner, am vörnsten. Haben Sie schon von der „Popomo“ gehört?

Sicher nicht, denn bisher hielt ich sie fest in meinem Busen verschlossen. Jetzt lass ich sie raus und Sie können mit Goethe sagen: Wir sind dabei gewesen.

„Popomo“, Sie ahnen´s vielleicht, ist die griffige Formulierung für „Postpostmoderne“.
„Popomo“ klingt ähnlich wie „Rokoko“. Hat das eine Bedeutung?
Vielleicht wieder: Après nous la déluge?

Ich kanns nicht ausschließen.