Begegnungen. Surreale Welten von Wolfgang Lettl


Markus Schiefer Ferrari
Einführung zur Vernissage im Karl Rahner Haus in Freiburg                 PDF-Dokument
04.11.16, 19.00 Uhr


Sehr geehrte Damen und Herrn,

es freut mich sehr, heute Abend hier in Freiburg als Augsburger ein paar einleitende Worte zu dem 1919 in Augsburg geborenen und vor acht Jahren dort verstorbenen Künstler Wolfgang Lettl sagen zu dürfen.

Als Neutestamentler und Bibeldidaktiker kann ich Ihnen keine kunstgeschichtliche Einführung in die Surrealen Welten Wolfgang Lettls bieten, hoffe aber, Ihnen dennoch ein paar Impulse für die Begegnung mit diesen so vertraut und zugleich befremdlich wirkenden Bildern geben zu können.

Ein bisschen entlastet fühle ich mich dabei durch folgenden Hinweis Wolfgang Lettls:

„Ein Kunstwerk soll aus sich selber überzeugend sein. Einführende Worte können zwar Hilfestellung leisten zum Verstehen, aber der wesentlichen Aussage eines Bildes ist mit Worten nicht beizukommen. Man soll sparsam sein mit Erklärungsversuchen, es könnte sonst der Eindruck entstehen, ein Bild hätte die Erklärung nötig und die Erklärung sei wichtiger als das Bild.“

In meinen „Hilfestellungen“ möchte ich mich daher auf drei Aspekte beschränken:

1) Das Verhältnis von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn
2) Der Mensch als Möglichkeitsmensch
3) Die noch nicht erwachten Absichten Gottes

1) Das Verhältnis von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn

Diese drei Aspekte verdanken sich einem bekannten Zitat von Robert Musil, der sich vor etwa hundert Jahren in seinem unvollendeten Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ Gedanken über das Verhältnis von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn macht, wenn er schreibt:

„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz […] ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns.


        Grenzgänger

Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können.“

Wolfgang Lettl verfügt, so mein erster Impuls, nicht nur über die Fähigkeit, das, was ebenso sein könnte, zu bedenken, sondern offensichtlich über die bemerkenswerte kreative Begabung, das, was ist, ebenso darstellen zu können, wie das, was nicht ist.

Wirklichkeit wird in seinen Bildern durch die Darstellung des Möglichen noch wirklicher.

So begegnen auf seinen Bildern exakt und plastisch gemalte Gegenstände, die existieren (können) oder auch nicht, die aber nicht so recht zusammenpassen wollen und in einen Raum gestellt sind, wo sie nicht hingehören. Dieses Zusammenbringen des Nichtzusammengehörigen unter Einbringung möglichst großer Gegensätze, das Ignorieren der Raumwirklichkeit, die Infragestellung und Verfremdung des Bekannten, die Erfindung neuer Formen und Verwendung starker Symbole sind Stilmittel des Surrealismus und zeichnen insbesondere das Werk Wolfgang Lettls aus.

Wenn Sie sich das Bild „Die Begegnung“ von 1985 auf Ihrer Einladungskarte betrachten, finden sie genau diese Stilmittel:


        Die Begegnung

Die einzelnen Elemente sind keineswegs irreal: eine Seeoberfläche, Brückenteile mit steilansteigenden Treppen, auf dem Geländer aufgesetzte Straßenlaternen und Menschen im Regen, teilweise mit Regenschirmen, Bildelemente die einer Vedute (Stadtansicht) von Venedig bei Acqua Alta (Hochwasser) entnommen sein könnten, wären da nicht die beiden gegeneinander versetzten halben Brückenbögen, die aus dem Nichts des sich verspiegelnden Wassers in die Leere eines gewittrig beleuchteten Wolkenhimmels aufsteigen.

Betrachtet man diese irritierende Kombination aus durchaus realen Gegenständen und Gestalten, stellt sich die Frage, ob nicht auch jeder von uns Surreale Welten schaffen könnte, wenn er nur das Rezept beherzigt:

„Man male möglichst exakt und plastisch Dinge, die es gibt oder nicht gibt, möglichst unpassend zusammen und stelle sie in einen Raum, wo sie nicht hingehören.“

Wolfgang Lettl beantwortet die Frage mit einem Jein: Auch wenn dieses Rezept im Prinzip richtig sei, fehle da noch etwas und man dürfe es sich nicht zu einfach machen. Was da noch dazu kommen muss, erklärt Wolfgang Lettl mit Hilfe eines Traumes, den er als kleiner Knirps immer wieder geträumt hat.


        Selbstportrait mit unsympathischen zeitgenossen

Er versuchte in diesem Traum, von drei Türen die richtige zu öffnen, allerdings erwartete ihn vor jeder Tür Schreckliches. Erst nachdem er sich fest vorgenommen hatte, im Traum „mit aller Anstrengung die Augen aufzureißen“, hatte der böse Spuk ein Ende und keine Macht mehr über ihn. Möglicherweise war, so Wolfgang Lettl, diese Auseinandersetzung mit solchen bedrohlichen Mächten „die Vorübung für den späteren Umgang mit den aus dem Unbewussten hervorgeholten Gestalten [s]einer surrealen Bilder“

Wolfgang Lettl geht es, um im Bild zu bleiben, also nicht nur darum, durch geöffnete Türen zu kommen, wie es der Wirklichkeitssinn verlangen würde, sondern er will tiefer in die Wirklichkeit vorstoßen, indem er nicht davor zurückschreckt, sehenden Auges den Möglichkeiten auch hinter den Türen zu begegnen.

Wolfgang Lettl bezeichnet Surrealismus daher auch als „seelische Tiefseetaucherei“. Wie bei der Erforschung unserer Erde, die zum großen Teil von Meeren bedeckt und damit für uns ziemlich unzugänglich und fremd ist, bemüht sich auch der Surrealismus, Bilder aus dem Unbewussten hervorzuheben und Begriffe, die nicht mit dem Verstand auszuloten und zu zählen sind, durch Meditation und Versenkung zu erschließen. Ähnlich wie bei Traumbildern, die aus dem Unbewussten kommen, bleibt im Surrealismus vieles irreal, verfremdet und geheimnisvoll, das aber dennoch durch die Kombination der dargestellten Gegenstände mit Bewegung und Licht in einem neuen Raum erlebbar wird. Dadurch wird für uns als Betrachterinnen und Betrachter ein Anregungspotential geschaffen, das eigene Unbewusste darin gespiegelt zu finden und zugleich neue Perspektiven für sich zu entdecken. Ziel ist es offenbar, der eigenen Imagination und Phantasie Raum zu geben.

Kehren wir nochmals zum Bild auf Ihrer Einladungskarte zurück: Meer, Brücke und Licht mögen – trotz des ersten Eindrucks der Trostlosigkeit – symbolhaft auf etwas verweisen, das aus den Tiefen eines Urgrundes hin zum hoffnungsvollen Licht am Himmel aufsteigt. Die irreal-reale Wirklichkeitskomposition lässt sich aber nach Wolfgang Lettl auch wesentlich profaner als ein Ausloten des Möglichen deuten:

„Ich gehe nie von dem aus, was ein Bild aussagen sollte, sondern nur von formalen Vorstellungen. Brücken waren mir immer beliebte Motive und Wasser habe ich auch gerne gemalt, und wenn mich die Verbindung zum festen Boden, einer Uferstraße etwa gestört hat, habe ich sie einfach weggelassen und die Brücke in ihrer ganzen majestätischen Form mitten im Wasser sich spiegeln lassen. Bei einem Versuch zu einer solchen Komposition kam mir der Einfall zu dieser Gestaltung […] Häufig zeigt sich dann bei längerer Auseinandersetzung und Hinterfragung, beim Malen etwa, ein tieferer hintergründiger Sinn […] Dann wird aus der Brücke, die eigentlich der Begegnung zweier Ufer dienen sollte, ein Gleichnis dafür, daß eine Begegnung auch nicht stattfinden kann, aus menschlichem Versagen etwa, weil die Fundamente verkehrt liegen. Unseren Technikern passieren solche Pannen nie, oder doch so selten, dass ich mich an keinen solchen oder ähnlichen Fall erinnern kann. In mitmenschlichen Beziehungen dagegen sind die Pannen wohl häufiger als das Gelingen der Beziehungen zueinander. Nicht nur zwischen Einzelnen, sondern zwischen ethnischen Gruppen, Denksystemen, Weltanschauungen und Konfessionen. Und diesen Pannen ist so schwer oder gar nicht beizukommen, weil schon die Fundamente verkehrt geplant sind.“

2) Der Mensch als Möglichkeitsmensch

In seinen einleitend zitierten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn fährt Robert Musil weiter fort und schreibt, Möglichkeitsmenschen würden in unserer Gesellschaft oft als Phantasten und Träumer belächelt werden. Wenn man sie loben wollte, würde man sie als Idealisten bezeichnen. Kindern dagegen, die diesen Hang hätten, würde man ihn sogar nachdrücklich austreiben.

Wie gesagt, begegnet uns mit Wolfgang Lettl ein Mensch, dem keineswegs der Wirklichkeitssinn fehlt, der im Gegenteil in seinen Bildern Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn miteinander zu verbinden vermag. Zugleich ist Wolfgang Lettl aber durchaus ein Möglichkeitsmensch im Musilschen Sinne, der „in einem feineren Gespinst aus Konjunktiven“ lebt.

So verweist er auf seinen Bildern immer wieder auf die Offenheit und Unabgeschlossenheit und damit den Versuchs- und Möglichkeitscharakter des Menschseins.


        selbstportrait

In der auch hier gezeigten Reihe „13 Versuche, ein Hahn zu werden“ geht es, wie Wolfgang Lettl betont, natürlich nicht darum, ein Hahn zu werden, sondern darum, ein Mensch zu werden. Das Gelingen der Menschwerdung ist aber eben keineswegs selbstverständlich. Im ebenfalls ausgestellten Zyklus „Nebeltage“ von 1989-90 trägt beispielsweise ein Zeitungsleser eine schwarze Augenbinde („Schwarz auf Weiß“, 1989)


Schwarz auf weiss  Rubicon

oder ein gut gekleideter Herr steht vor der Entscheidung, eine im Raum freistehende Tür zu öffnen, hinein in eine graue unwirkliche Welt („Rubikon“, 1989).

Mal stellt Wolfgang Lettl den Menschen als Seiltänzer dar, der zusätzlich auf einer Kugel balanciert („Die Auseinandersetzung mit dem Fall“, 1995), mal als einen Tastenden, der an Stelle des Kopfes den großen Buchstaben Q hat, ein Sinnbild für die Frage „Quo vadis?“ („Der Schritt in die richtige Richtung“, 1997).


Ss  

Oftmals begegnet dabei auch eine Taube, die im Surrealismus als Alter Ego des Künstlers verstanden werden kann. Wie das Menschsein allgemein ist gerade die künstlerische Existenz ein Balanceakt zwischen Gelingen und Scheitern, eine Suche nach dem Gleichgewicht zwischen individuellem Bestreben und schicksalhafter Bedingtheit. Dabei sind nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen des Künstlers angesprochen, sondern gerade auch die der Betrachterinnen und Betrachter der Bilder.

Bilder wenden sich, so Wolfgang Lettl, mit ihren Mitteilungen von „drüben“ „nicht an den Verstand, sondern an das, was wir mit dem abgestandenen Begriff ‚Seele‘ zu umschreiben versuchen. Wer indes allzu sehr mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit stehen zu müssen glaubt, tut sich schwer mit dem Fliegen, und wer meint, sich in allem nur auf die Wissenschaft verlassen zu können, kommt leicht in Schwierigkeit mit dem Jenseits und kann mitunter nicht einmal kapieren, was an einem Bild schön und wahr sein soll, weil sein Auge das Sehen nur in einer Richtung gelernt hat.“

Gerade Kunst kann, wie Lettl immer wieder zeigt, helfen, neue Perspektiven zu entwickeln und Erkenntnis, Orientierung und Sinnerfüllung zu vermitteln. Daher stehen Bilder für Lettl grundsätzlich am Anfang jeder Bildung. Von Bildern ergriffen zu sein, kann mitbestimmend für die Entwicklung und Lebenseinstellung auch von Kindern sein. „Bildung“ kommt schließlich, so Lettl, von „Bild“ und die Bildsprache ist älter als die Wortsprache. „Bilder sprechen uns direkt an, haben ihren Ausdruck in sich. […] Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt stellen die Bilder auch Fragen, meist aber nicht den Maler betreffend, sondern die Menschheit: Wie geht der Mensch mit sich selber um? Was hat er aus der ihm anvertrauten Erde gemacht?“

3) Die noch nicht erwachten Absichten Gottes

Kehren wir ein letztes Mal zu den Überlegungen Robert Musils zurück. Die offenbar verbreitete Skepsis gegenüber Möglichkeitsmenschen erfasst, so Musil, in der Regel nur eine schwache Spielart, „welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirklich einen Mangel bedeutet“. Tatsächlich gilt jedoch: „Das Mögliche umfaßt […] nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“

So gilt auch für Wolfgang Lettl: „Jedes gelungene Bild ist […] eine neue Wirklichkeit und somit ein Teil der noch nicht abgeschlossenen Schöpfung, wenn auch ein noch so bescheidener.“

Kunst ist aber nicht einfach machbar, ganz im Gegenteil. Zunächst erlebe er als Künstler, so Lettl, die Erkenntnis der eigenen Beschränktheit. Obwohl er meine, voller Ideen zu sein, bringe er oft nur „sinnloses Gekritzel und albernes Zeug“ aufs Papier und vertue Zeit, viele Stunden und Tage. Dann stelle sich aber auf einmal das Gefühl ein, es sei ihm etwas gelungen. Dazu komme die Überraschung, weil da etwas sei, wovon er vorher keine Ahnung hatte und was es auch nicht gebe, wenn er es nicht gemacht hätte.

Insofern ist Kunst „Teil des Schöpferwillens Gottes. Der Mensch dient nur als Handlanger, und wenn er es gut macht, oder sagen wir besser: wenn ihm das von Fall zu Fall gelingen sollte, ist das kein Grund zu Überheblichkeit, sondern zur Demut.“ Kunst hebt den Menschen über sich hinaus, sie deutet den Sinn des Lebens und das Verhältnis zu Gott und seiner Schöpfung. So war Kunst – zumindest früher – „die selbstverständliche Form der Begegnung mit Gott“ und „auch die edelste Form des menschlichen Miteinanders“

Es überrascht also nicht, wenn sich im Werk Wolfgang Lettls, das mehr als 500 surrealistische Bilder umfasst, auch explizit religiöse Motive oder biblische Szenen finden, wie etwa der Prophet Jeremia (2004).

Häufig begegnet bei Lettl auch der Gekreuzigte:

        Kreuzigung um 1960

Bereits 1960 hat Wolfgang Lettl eine Kreuzigungsszene als Teil eines Kreuzweges in einer Kirche in der Nähe von Augsburg gestaltet, allerdings noch in expressionistischer Manier und mit klassischer Figurenkonstellation.

Das 1976 entstandene Bild „Psalm 22“, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, bricht dagegen völlig mit der üblichen Ikonographie und zeigt das Kreuz nun von hinten, auf einer Müllhalde.


        Psalm 22

Der Korpus ist mit dem Kreuz verwachsen, zerfallend, aber immer noch blutend. Ansonsten ist die Szene bestimmt von Leere. Vielfach nehmen die Menschen auf den Bildern Lettls das Kreuz aber nicht wahr. Gerade das Kreuz kann aber, wie Lettl 2005 zu einem Bild erläutert, das Maria von Magdala zu Füßen des Gekreuzigten zeigt, als Zeichen dafür stehen, „dass die Schattengestalten, die Einsamen, Gescheiterten und Ausgestoßenen in Gottes Barmherzigkeit nicht vergessen sind“.

Die Beantwortung einer letzten Frage dürfte sich nach dem Gesagten fast erübrigen: Warum werden die Bilder Wolfgang Lettls eigentlich gerade im Institut für Religionspädagogik, hier im Karl Rahner Haus, ausgestellt? Wie sich durch die Verwendung von Lettl-Bildern in Religionsbüchern und in religionspädagogischen Fachzeitschriften und damit im Religionsunterricht immer wieder zeigt, vermag Wolfgang Lettl mit seinen Bildern insbesondere bei Kindern und Jugendlichen einen gerade für unsere Zeit so notwendigen Möglichkeitssinn und damit die noch nicht erwachten Absichten Gottes zu wecken.

In diesem Sinne darf ich Ihnen, uns allen, intensive Bildbegegnungen und Gespräche in dieser, wie mir Frau Dr. Jakobs vorgestern treffend geschrieben hat, so „vielfarbigen, vielgesichtigen und vielschichtigen Ausstellung“ wünschen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.