Das geheimnisvolle Und
Rede von Alexander Schweda am 30.11.2022 im LETTL-Museum
Das Wörtchen „und“ ist ja immer ein bisschen geheimnisvoll:
„… und Jimmy ging zum Regenbogen“ lautet ein berühmter Romantitel. „Und dann kam Polly“, hieß ein legendärer Film. Ganz zu schweigen von den Pärchen Harry und Sally, Dick und Doof, Narziss und Goldmund, die Heiligen Peter und Paul. Aber es gibt auch andere Verbindungen wie der „Brandner Kasper und das ewige Leben“ oder philosophische Gesamtschau-Überschriften a lá „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von Karl Popper.
Und jetzt also „Kirche und Welt“.
Was soll dieses „und“?
Was bedeutet das?
Immer bleibt es geheimnisvoll vage. Soll es „zusammen mit“ heißen? Also der Peter mit dem Paul? Oder ist das eine Teilmenge des anderen? – Kirche in der Welt? Oder stehen die beiden Subjekte nur lose verbunden nebeneinander, beäugen sich oder widersprechen sich gar und sind so die diametrale Ergänzung des anderen?
Kirche und Welt. Und die Kunst. Das darf man bitteschön nicht vergessen. Wir treffen uns ja nicht im theologischen Raum, sondern im Raum der Kunst. Präzise gesagt: Es geht um Kirche und Welt in den Augen der Kunst. Aus dem Und-Pärchen wird so eine Dreiecksbeziehung. Folglich nehmen wir hier den Standpunkt der Kunst ein und betrachten mit ihrer Hilfe das Pärchen Kirche und Welt.
Bei Wolfgang Lettl, dem Künstler, lese ich, dass der Künstler die Erscheinungen seiner Zeit weniger logisch denkend als intuitiv erfasst. In Bezug auf den Begriff „Welt“ stellt er sich dabei die erste und wichtigste Frage: Warum ist der Mensch auf der Welt und warum gibt es diese Welt und den Menschen überhaupt? Lettl springt von dieser Frage aus ganz flugs rüber zur Kirche und antwortet mit dem Katechismus: „Wir leben, um auf Erden den Willen Gottes zu tun, damit wir ewig selig werden können.“
So schnell will ich ihm da nicht folgen, auch wenn Wolfgang Lettl sofort nachschiebt, was der real existierende Katholizismus aus seinem eigenen Anspruch gemacht hat. Und das Ergebnis dürfen wir heute in seinen Bildern auch in seiner surrealen Präzision bewundern.
Wenn zum Beispiel über unglücklichen, halbierten und fast kopflosen Menschen in einer engen Flucht aus Betonfassaden plötzlich das Kreuz auf dem Kopf gestellt über sie hereinbricht. Wenn Kardinäle sinnlos auf einer Brücke inmitten einer Flut hin und her umkehren, während das Kirchenschiff zerschellt am Ufer liegt. Wenn ein rückgratloser gebeugter Priester betend auf dem Boden kniet, während hinter ihm Frauenbeine aus einer Mülltonne ragen. Wenn über der Gebetsbank ein plattgewalzter Frauenkörper wie ein nasses Handtuch gelegt wurde.
Auch bei Florian Lettl zeigt sich die Konfrontation zwischen Kirche/Glaube und Welt, wenn er aus Meeresmüll eine Madonna erstehen lässt und so die Inkarnation umkehrt. Der Geist wird nicht Materie, sondern die tote Materie wird Geist. Oder wenn er bei der Skulptur Dogma dem Menschen einen umgekehrten Trichter auf den Kopf setzt. So geht wirklich nichts mehr weiter.
Aber zurück zu Wolfgang Lettls Frage: Warum sind wir auf der Welt? Und was hat die Kirche dann damit zu tun?
Ich möchte hier zwei Antwortansätze ausführen: Als erstes den Ansatz des Wiener Psychiaters und jüdischen Philosophen Viktor E. Frankl, der die so genannte Logotherapie entwickelt hat. Nach Freud und Adler die dritte Wiener Schule der Psychotherapie, die sich nicht mit dem Trieb (Freud) oder der Macht (Adler) auseinandersetzt, sondern mit dem Sinn. Dem Logos. Deshalb Logo-Therapie.
Kurz zusammengefasst sagt Viktor Frankl, dass der Mensch psychisch krank werden kann, wenn er den Sinn in seinem Leben verliert. Also kann er auch wieder gesund werden, wenn er diesen wieder findet oder er kann sein nicht heilbares Leid besser ertragen. Sein Leitsatz lautete: „Der Mensch erträgt jedes Wie, wenn er ein Wozu hat.“
Frankl hat seine Lehre entfaltet, nachdem er das KZ in Dachau überlebt hatte, aber seine Ehefrau und seine Familie in den Konzentrationslagern der Nazis verloren hatte. „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, lautete dann der Titel seines ersten Buches nach dem Holocaust, den er erst nach Phasen der Depression und des Suizid-Verlangens hinter sich lassen konnte.
Also was sagt dieser Frankl zu der Frage, warum der Mensch auf der Welt ist? Frankl dreht den Spieß um. Er sagt: Der Mensch ist nicht dazu da, Fragen zu stellen, sondern Antworten zu geben. Das Leben stellt die Fragen und wir sind es, die darauf antworten, dies ver-antworten müssen. Dabei postulierte er einen Dreisatz der menschlichen Existenz: Erstens: Der Mensch hat einen freien Willen, wenn er oft auch nur einen Teilbereich des Lebens abdeckt. Zweitens: Dieser Wille manifestiert sich als ein Wille zum Sinn. Der Mensch sucht also unabdingbar nach dem Sinn des Lebens. Und Drittens behauptet Frankl: Dieser Sinn des Lebens existiert und kann gefunden werden.
Somit hätten wir aus dem Begriffspärchen Kirche und Welt erstmal „Mensch und Welt“ herauskristallisiert. Der Mensch ist in der Welt und antwortet auf die Frage der Welt mit seinem Leben, das nach Sinn strebt. Und sinnvoll ist für Frankl alles, was den philosophischen Werten entspricht, die der Mensch in der Lage ist, intuitiv zu erfassen.
Intuition! Jetzt wären wir wieder beim Blickwinkel der Kunst. Sie ist in der Lage, uns die Beziehung von Mensch und Welt – oder auch von Kirche und Welt – vor Augen zu führen und uns Werten und Ideen hinter den Bildern zu öffnen. Das ist es, was die Bilder von Wolfgang Lettl und die Skulpturen von Florian Lettl so reizvoll macht. Diese Welt hinter der Und-Welt. Jenseits von „Kirche und Welt“ ist die Bild-Welt, die Welt-Welt oder Sinn-Welt, die Wahr-Welt oder soll ich als Theologe sagen, die Christus-Welt? Damit wäre ich bei meinem zweiten Antwort-Ansatz auf die Frage, warum wir auf der Welt sind und was das mit Kirche zu tun hat.
Wenn ich auf das Begriffspaar „Kirche und Welt“ zu sprechen kommen will, dann lande ich bei der Theologie: Lassen sie mich diese wunderbaren poetischen Worte aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums vorlesen, in dem alles verborgen liegt, was zum Thema „Kirche und Welt“ zu sagen ist:
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.
Dieses war im Anfang bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.
In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.
(…)
Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“
Gott war also das Wort. Das Wort kam IN die Welt, aber die Welt nahm es nicht auf.
Und wie kam das Wort in die Welt? Es ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, im Original heißt es: Es hat unter uns gezeltet. Also nix Tempel, Steingebäude und eherne Kirche. Gott wird Mensch und schlägt sein Zelt in der Welt auf. – Weihnachten!
Und wenn wir ernst nehmen würden, dass die Kirche die Fortführung des Lebens Jesu ist und sein Leib, dann dürfte es niemals heißen: „Kirche und Welt“, sondern immer „Kirche in der Welt“. Sie müsste immer ein Sauerteig sein, der die Welt durchsäuert, das Salz, das das Leben würzig macht und das Licht, das die dunkle Welt erhellt, damit wir Menschen Kinder Gottes werden können. Denn deshalb sind wir auf der Welt, damit wir Kinder Gottes werden.
Dass dem nicht so ist, dass Kirche und Welt wie zwei erratische Blöcke nebeneinander stehen, das zeigt uns die Lettl`sche Bildwelt nur zu deutlich. Lettl selbst sagte einmal: „Für mich kamen die ersten größeren Zweifel am unbedingten Walten des Heiligen Geistes in der kirchlichen Hierarchie anlässlich ihres allzu klugen und vorsichtigen Verhaltens gegenüber dem Nationalsozialismus. Als ich dann, nach dem Krieg, einmal einen Bischof, während ich porträtierte, im Gespräch fragte, ob es nicht richtig gewesen wäre, wenn die Kirche den deutschen katholischen Soldaten verboten hätte, am 2. Weltkrieg teilzunehmen, nachdem sie doch sicher erkannt hatte, dass es sich um einen ungerechten Angriffskrieg handelte, oder uns wenigstens vom Treueid auf den „Führer“ entbunden hätte, bekam ich die Antwort: „Das hätte Tote gekostet.“ Woraus ich schloss, dass auch die Bischofsweihe den Heiligen Geist nicht garantiert und ich mich besser in allen Fragen in erster Linie auf meinen eigenen Verstand verlasse.“
Und trotzdem sehe ich in vielen Werken von Wolfgang Lettl wie zwischen den surrealen Blöcken von Kirche und Welt mit ihren skurrilen Formen und alptraumartigen Szenen dieser Heilige und lebendige Geist durchblitzt, von dem der Johannes-Prolog spricht. Gehen Sie ruhig mal auf die Suche. Sie werden es finden. Es ist das Licht hinter dem Gekreuzigten, das Feuer auf dem Kreuzesbalken, der blaue Zwischenraum über dem Beton, und der Gottvater aus der Sixtinischen Kapelle, der eine ganz weibliche Eva im Arm hält.
Und lassen Sie mich zuletzt noch ein großes „Und“-Geheimnis antippen: Was glauben Sie? Wodurch hat nach der Lehre der Kirche Gott die Menschheit erlöst? Weil Jesus am Kreuz für unsere Sünden gestorben ist?
Da ist zwar etwas dran, aber als Antwort auf meine Frage muss ich sagen: Nein. So nicht.
Die alte Kirche hat auf ihren ersten Konzilien im 4. Jahrhundert diese Frage eindeutig und ganz anders geklärt. Die Antwort lautet: Der Mensch ist erlöst, weil Gott in Jesus Mensch geworden ist, und damit Gott und Mensch sich verbunden und sozusagen wiedervereinigt haben. Und die Erlösung am Kreuz zeigt sich dadurch, dass Jesus bis zum Tod diese Verbindung nicht mehr gelöst hat und sie darüber hinaus in sein neues Leben mitgenommen hat.
Die Erlösung der Welt geschieht somit in einer neuen „Und-Formel“:
Gott und Mensch.
Untrennbar verbunden.
Es ist das Geheimnis des „Und“, das Sie jetzt in dieser Ausstellung entdecken dürfen. Das Und zwischen Kirche und Welt, zwischen Gott und Mensch und sie können beobachten, was dieses Geheimnis in Ihnen beim Betrachten der Bilder auslöst.
Und ich kann Ihnen erzählen, dass mancher Besucher dieses Geheimnis schon entdeckt hat. Denn ich habe hier schon herzhaftes Lachen beim Betrachten dieser Sonderausstellung gehört.
Florian Lettl sagte mir, der Künstler sei wie ein Postbote. Er überbringt die Briefe, ohne den Inhalt zu kennen. Der Künstler überbringt ein Bild, auf dem er einfach nur etwas Schönes malen wollte. Welcher Inhalt dann beim Betrachter aufgerufen wird, hängt vom Betrachter und dessen persönlichen Inhalten im Kopf ab.
Florian Lettl hat bei dieser Überbringung im LETTL-Museum oft eines erlebt: „Manche Menschen gehen richtig glücklich aus so einer Ausstellung heraus“, erzählt er mir.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen glücklichen Abend.