Wolfgang Lettl – Retrospektive „Der Grenzgänger“
Rede von Thomas Weitzel am 31.01.2019 im Schaezlerpalais
Am 18. Dezember 1919 wurde in Augsburg Wolfgang Lettl geboren, der zu den produktivsten und populärsten Künstlerpersönlichkeiten in dieser Stadt heranwachsen sollte. Als er am 10. Februar 2008 starb, hinterließ er 500 surreale Bilder sowie etwa 400 Landschaften und Stadtansichten. Die meisten davon blieben als geschlossener Bestand zusammen und werden seit 1992 vom Wolfgang-Lettl-Verein zur Förderung surrealer Kunst und Wolfgangs Sohn Florian Lettl bewahrt.
Wolfgang Lettl ist vielen Augsburgerinnen und Augsburgern auch über den Kreis der Kunstinteressierten als einprägsame Persönlichkeit ein Begriff. Ich freue mich deshalb, anlässlich seines 100. Geburtstages eine große Retrospektive mit rund 60 Bildern aus sieben Jahrzehnten seines künstlerischen Schaffens im Schaezlerpalais eröffnen zu dürfen.
Der Künstler hat sich – für einen Redner natürlich sehr günstig – immer wieder auch zu seinem Schaffen geäußert. Seine Kommentare haben, was noch besser ist, zudem Ironie und Witz. Sie erlauben uns auch heute noch gleichsam in Begleitung von Herrn Lettl an seinem Werk vorbei zu spazieren.
An den Beginn seines künstlerischen Schaffens setzte der Maler die Rekonstruktion einer Zeichnung aus seiner Kindheit. In naiver Klarheit sind eine Sonne sowie eine Frau mit Dutt und gekleidet im Faltenrock zu sehen. Sie hält einen kleinen aufgespannten Schirm in der Hand und führt einen Hund an der Leine. Lettl schrieb selbst dazu:
Sie – also die Zeichnung – zeigt schon die auch später immer wieder bevorzugten Motive: Die Frau, den Schirm, den Fisch. Dass Frauen auch ausgezogen vorkommen, entzog sich damals meiner Kenntnis. Ebenso wie die Tatsache, dass man Fische an der Leine spazieren führen kann, weswegen ich sie meist durch einen Dackel ersetzt habe. Einer damals weit verbreiteten konventionellen Vorstellung entsprechend, von der ich noch nicht losgekommen war, malte ich den Frauen immer einen Kopf auf den Hals.Es sollte ein Weile dauern, bis Lettls Frauen den Kopf verloren und schwebende Fische angeleint wurden.
Zu den frühesten Arbeiten Wolfgang Lettls gehören Stadtansichten. 1942 kam er als Nachrichtensoldat nach Paris, dessen Stadtbild er in seiner Freizeit aquarellierend erkundete. In dieser Stadt war gut zwanzig Jahre vorher die surrealistische Bewegung von dem Schriftsteller André Breton ins Leben gerufen worden. 1924 formulierte Breton das „erste surrealistische Manifest“. Traum, Trance und Rausch – das waren die obskuren Welten des „Unterbewussten“, die Breton und seine Mitstreiter wie Dalí oder Miró faszinierten. Während der Zeit in Paris nun bekam Wolfgang Lettl die bildlichen Ergebnisse dieser Bewegung von Grenzgängern.
Als Lettl 1945 in seine stark zerstörte Heimatstadt zurückkehrte, versuchte er sich als freischaffender Kunstmaler. Schon 1946 waren dann Bilder von ihm hier im Schaezlerpalais zu sehen, in der zweiten Ausstellung nach dem Krieg überhaupt. Sie trug den schlichten Titel „Augsburger Maler I“. Wiederkehrendes Bildthema von Lettls meist in Aquarelltechnik gestalteten Werken war die zerstörte Heimatstadt. Da sieht man geschwärzte, aufgerissene Häuser allenthalben, Innenräume die wie bei Puppenhäusern geöffnet waren und noch Reste des ehemaligen Alltagslebens zeigten. Die ruinöse Stadt, sie mag auf den Maler wie eine schaurig-schöne Bühne gewirkt haben. Vielleicht deutet sich in diesem Interesse für das Fragmentierte schon ein Hang zum Surrealen an.
Zwar verdiente Lettl seinen Lebensunterhalt zwischen 1948 und 1954 unter anderem als Bau- und Lagerarbeiter, seine Malereien waren aber zwischen 1949 und 1962 mehrfach im Rahmen der Großen Schwäbischen Kunstausstellung ausgestellt. Die Augsburger Kunstsammlungen erwarben auch einzelne Bilder wie „Plärrer“ von 1949. Es gehörte einer Schaffensphase an, in der sich Lettl vor allem Stadtansichten aus erhöhter Perspektive widmete: In heitere Farben getauchte Szenerien mit wimmelnden Figuren. Einzelne Bilder wie „Bahnhof“ von 1948 dagegen sind von ambivalenter vielleicht auch beunruhigender Wirkung.
Neben Tafelbildern, Zeichnungen und Aquarellen schuf Lettl daneben zahlreiche Werke für den öffentlichen Raum – Wandmalereien, Sgraffiti, Mosaike oder Farbfenster. Kunst am Bau wurde gerade in den 1950er-Jahren sehr gefördert, sie ist an vielen Stellen auch noch zu sehen. Der Beitrag Lettls hierzu ist allerdings wenig bekannt und erforscht, zahlreiche Werke sind wohl leider durch Umbauten oder Abbrüche mittlerweile verschwunden.
Schon 1946 mischten sich unter diese Arbeiten surrealistische Bilder von fragmentierten menschlichen Körpern, Architekturen oder Gegenständen in weiten Landschaften. Lettl schrieb hierzu:
Der ganzen Verkehrtheit der Welt, sagte ich mir, und der Verrücktheit der Menschen sei wohl die verrückteste Kunstrichtung, der Surrealismus, am ehesten angemessen.Bei dieser schließlich lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Surrealen spielte wiederum das Schaezlerpalais eine wichtige Rolle, dieses Mal aber für die Inspiration: Von einer Ausstellung des Malers Karl Kunz 1953 an diesem Ort zeigte sich Lettl besonders beeindruckt. Kunz stellte meist überfüllte Bildräume dar. Die verschränkten und fragmentierten Personen und Objekte changieren zwischen Illusion und Abstraktion.
Gerade diese Zerlegung in Einzelteile scheint Lettl einmal mehr interessiert zu haben. Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren malte er Kompositionen bestehend aus Menschen, die mit Architektur oder Objekten interagieren. Meist befinden sie sich in flachen Landschaften oder fluchtenden Stadträumen à la de Chirico. Um 1970 kamen schachtelartige Räume dazu, die von schwebenden, maschinenartigen Formationen bestimmt sind. Man mag sich an Träume erinnert fühlen, doch Lettl betonte, dass die Bilder niemals Träume abbilden, die er genau so erlebt habe:
(...) Traumsituationen geben kaum Stoff für surreale Bilder. Im Traum erlebe ich dies und jenes, aber meist nur schemenhaft, flüchtig, nichts Greifbares, Malbares. (...) Ob es Maler gibt, die vor ihrem "geistigen Auge" sehen, was sie malen wollen, weiß ich nicht. Ich jedenfalls muss mich hinsetzen mit Papier, Bleistift und Radiergummi und lange Zeit zeichnen, probieren und verwerfen, bis mir ein brauchbarer Entwurf gelingt. (...) Große Träume, die betroffen machen und Träger wichtiger Mitteilungen sein können, sind selten und eignen sich trotz ihrer bildhaft-einprägsamen Gewalt kaum als direkte Bildmotive, womit nicht gesagt sein soll, dass sie im künstlerischen Gestaltungsprozess keine Rolle spielen, aber diese ist schwer nachweisbar und lässt sich nur von Fall zu Fall erahnen.Lettls Bilder stellen gewiss nichts Alltägliches dar, als Capriccios verschließen sie sich einer eindimensionalen Erklärung. Dennoch aber haben die Kompositionen doch etwas sehr Erzählerisches. Vielleicht befinden sich in seinem Œuvre deshalb auffällig viele Serien, in denen die Einzelbilder zu Sequenzen werden. Genannt seien etwa die „13 Versuche ein Hahn zu werden“ von 1978/1978.
Die dramatischen Szenen der „Grünen Rahmenserie“ (1980-83) dagegen wirken mit ihren gemalten Titelschildchen in der Gesamtschau wie Dioramen einer Kunst- und Wunderkammer. 1985-88 folgte eine ähnlich konzipierte „Graue Rahmenserie”, die mit tradierten Raffinessen des Augentäuschens spielt: Auf die räumlich wirkenden grauen Rahmen scheinen Gegenstände – mal eine Taschenuhr, mal eine Zigarettenschachtel dann eine Muschel – abgelegt.
Man kann sich solche Bilder sehr gut auch bewegt vorstellen und tatsächlich wirkte Lettl 1998 und 1999 an vier surrealen Kurzfilmen mit: „Die wahnsinnige Zitrone“, „Riegele“, „SUB“, und „Die Operation“. Die Bildserie „Nachtträume“ kam als Schauspiel mit dem Titel „Das Brett“ 1994 zu Lettls 75. Geburtstag zur Aufführung.
Einige seiner – später oft sehr großformatigen – Malereien übersetze er auch sehr überzeugend in Aquatinta-Radierungen. Diese Drucktechnik eignet sich mit ihren „rauchartigen“ Flächen besonders gut für Surreales oder Erschreckendes – denken wir nur an Goyas „Los Caprichos“. Denken wir aber auch daran, dass in Augsburg, Lettls Heimatstadt das Quodlibet, also das collageartige Bild populär war oder auch Einblattholzschnitte von „erschröcklichen“ Wunderzeichen.
Für Lettl spielten die Bildtitel eine wichtige Rolle, sie bildeten quasi die Möglichkeit zum Kommentar. Lassen wir ihn einmal mehr zu Wort kommen.
Im Surrealismus kann dem Namen verschiedene Bedeutung zukommen. Er kann ein zusätzliches Motiv mit ins Spiel bringen oder das Augenmerk in eine bestimmte Richtung lenken, auch in die verkehrte, er kann umschreiben oder ironisieren, enthüllen oder verhüllen, vortäuschen oder enttäuschen, banal sein oder ein Gedicht, Verdeutlichung oder Wortspiel.Die Titel selbst sind beredt. Da lautet einer „Der Mädchenanzünder“. Das Gemälde zeigt ein schwebendes Sofa auf dem eine, jetzt nackte und kopflose und zudem, als würde das nicht schon reichen, auch noch brennende Frau in Odalisken-Pose dahingestreckt liegt. Zwischen üppigen Blumen stehen zwei Herren: Einer im schwarzen Mantel, mit Magritte-Melone und schwarzer Augenmaske; ein weiterer mit Uniformmütze. In „Ecstasy“ rennen die schon häufig genannten „zerlegten“ Gestalten in einem wilden Tanz auf den Abgrund einer unvollendeten oder zerstörten Brücke zu; seitlich zündet sich ein Herr – wiederum mit schwarzem Mantel und Melone eine Zigarre an.
Solche schwarz gekleideten Herren kehren also häufig wieder, eben auch in dem Bild „Der Grenzgänger“ von 2007, das der ganzen Ausstellung den Titel leiht. Hier scheint der Herr im schwarzen Mantel, mit Zylinder und Schirm zwei im Straßenraum stehende graue Platten zu durchdringen; er zeigt auf ein Gebäude, das man in Augsburg wohl mit Fug und Recht als „Holl-Architektur“ bezeichnen könnte. Zwei Katzen recken ihre Köpfe um die seltsame Szene zu beobachten.
Das „Grenzgehen“ ist sicherlich eine der zentralen Motivationen des Künstlers Lettl wie auch der Protagonisten seiner Bilder. Grenzgehen bedeutet Räume zu durchschreiten, an Grenzen – Türen, Mauern, Brücken ins Nirgendwo – zu stoßen oder, vielleicht, diese zu überschreiten. Dies kann physisch passieren oder eben auch gedanklich, bzw. träumend. Im menschlichen Gehirn ist Platz für viele Räume und wenn man bereit ist, ihre Grenzen zu überschreiten, tut sich Verborgenes, Unbewusstes auf. Ein Fisch der Romulus und Remus säugt oder gut angezogene Männer und entblößte Frauen ohne Kopf, womöglich.
In einem der ausgestellten Bilder sehen wir Wolfgang Lettl selbst, der einen solchen „inneren Raum“ durch eine Tür betritt. Er wirkt ein wenig skeptisch. Von den anderen Türen kommen seltsame Gestalten herein „unsympathische Zeitgenossen“ wie es im Bildtitel heißt. Einerseits ist das eine rote Figur mit starrenden Augen, andererseits eine ganze wilde Jagd übereinander stürzender Körperfragmente. Was das Bild bedeutet? Hier hat uns Herr Lettl eine Mahnung an die Hand gegeben:
Ein Kunstwerk – notierte er – soll aus sich selber überzeugend sein. Einführende Worte können zwar Hilfestellung leisten zum Verstehen, aber der wesentlichen Aussage eines Bildes ist mit Worten nicht beizukommen. Man soll sparsam sein mit Erklärungsversuchen, es könnte sonst der Eindruck entstehen, ein Bild hätte die Erklärung nötig und die Erklärung sei wichtiger als das Bild. Das soll schon vorkommen. Wenn einer vom Mysterium faselt und von kosmischen und sakralen Dimensionen, dann darf man schon genau hinschaun, ob da wirklich was davon zu sehn ist.In diesem Sinne spare ich mir das Kosmische und Sakrale und wünsche Ihnen viel Freude beim genauen Hinschauen und Entdecken.