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Rede von Wolfgang Lettl zur Eröffnung der Sonderausstellung 10 Jahre Lettl-Atrium am 6. November 2003 Verehrte Frau Präsidentin, liebe Freunde, gleichzeitig, mit der Feier des zehnjährigen Bestehens unseres Museums, die wir, wie es sich gehört, mit einer Sonderausstellung meiner neuesten Bilder verbinden, können wir im Eingangsbereich der IHK die Plastik „Das Gipfeltreffen“ einweihen. Sie stand vor dem Umbau im Park des Kammergebäudes, wo jetzt kein Platz mehr ist. Die Plastik war aber nicht allzu wetterfest, weil sie mein Sohn Florian, angeregt von einem Bild im Museum, aus nicht ganz geeignetem Material geschaffen hat, einfach so, aus Freude am Modellieren. Sie hat einige Jahre in ihrem provisorischen Zustand ausgehalten, aber allmählich zeigten sich Verfallserscheinungen. Schade. Gerade noch rechtzeitig ermöglichte eine großzügige Spende den Guss in Aluminium. Dafür danke ich Herrn Peter Schrott recht herzlich. Das „Gipfeltreffen“ zeigt eindrucksvoll, wie zwei nicht gleichzeitig den Gipfel erreichen können. Ihre schwere Last drückt sie so nieder, dass sie einander nicht einmal in die Augen sehen können, sonst würden sie im Anderen ihren Bruder erkennen. Schlimmstenfalls schlagen sie sich gegenseitig tot, manchmal bleibt auch einer übrig. Ganz oben ist halt nur Platz für einen. Der muss dann immer noch gewärtig sein, dass ein anderer darauf lauert, ihn herunterschmeißen zu können. Wie das so geht im Großen, das ist in der Weltgeschichte nachzulesen. Im Kleinen ist es so ähnlich. Ich finde, das „Gipfeltreffen“ passt gut an seinen Platz und freue mich mit Florian, dass uns alles so gut gelungen ist. Wie sind wir eigentlich damals vor 10 Jahren auf die Idee mit dem „Lettl-Atrium“ gekommen? Die erste Anregung gab eine Ausstellung meiner surrealistischen Bilder im Zeughaus. So viele meiner Bilder beisammen in der prächtigen Säulenhalle ließen in mir die Überzeugung aufkommen, die müssten irgendwie beieinander bleiben und der Öffentlichkeit zugänglich sein. Mit dieser Meinung war ich nicht allein. Dann stellte sich aber gleich die Frage: Wozu dieser Aufwand, was will meine Kunst überhaupt, das diesen Anspruch rechtfertigen kann? Ich habe lange nachgedacht, und als ich einmal wach im Bett lag und nicht einschlafen konnte, formulierte ich es so: Kunst dient der Selbsterkenntnis und der Kommunikation. Selbsterkenntnis, weil ich beim Arbeiten die Enge und Weite meines Menschseins zu erspüren suche, und Kommunikation, weil ich anderen meine Erkenntnisse und Erfahrungen anhand meiner Bilder zugänglich mache und zu einer Stellungnahme herausfordere, oder auch ganz einfach, weil ich mich freue wenn sich jemand an meinen Bildern freut. Wir machten der Stadt das Angebot, die Sammlung kostenlos zu übernehmen, sie lehnte aber ab. Da war die IHK so großzügig und vertrauensvoll, ihre leeren Wände zur Verfügung zu stellen. Ich darf Ihnen, kurz zusammenfassend, und schon deshalb sehr unzulänglich, meine Meinung zur Situation des gegenwärtigen Kunstbetriebes erläutern, weil diese meine Meinung mit ausschlaggebend war für den Entschluss, meine Bilder nicht mehr in der üblichen Weise in Kollektions- und Einzelausstellungen oder Galerien zu zeigen und zum Kauf anzubieten. Wir zehren immer noch von der Moderne. Auf wann wir ihren Anfang datieren wollen sei dahingestellt, jedenfalls erreichte sie mit der jungen Aufbruchs-Generation der um 1880 Geborenen ihren Höhepunkt. Auslöser waren die Erschütterungen der Weltkriegszeit gewesen und das Versagen der abendländischen Kultur. Die kritischen Künstler formulierten in ihren Bildern Spott und Zorn, Trauer und Niedergeschlagenheit und den Willen, neue Wege zu gehen. Ihre Mittel waren schreiende Farben und Provokation. Herrn Biedermann mussten sie als Verrückte erscheinen und verrückt waren sie wohl auch, verrückt im schöpferischen Sinn aus Erschütterung und Verzweiflung. Nun muss ich doch ein wenig differenzieren und klarstellen, wie die Bezeichnung „verrückt“ zu verstehen sei. „Verrückt“ bezeichnet zunächst nicht das Erscheinungsbild einer Geisteskrankheit, sondern heißt einfach „weggerückt“ vom bisher innegehabten oder angeordneten Platz. Eine „Tasse die nicht im Schrank ist“, ist halt gerade wo anders, auf dem Tisch z.B. oder im Spülbecken, aus durchaus sinnvollen und einsichtigen Gründen. Mit krankhaften oder gefährlichen Verwirrungen hat das sicher nichts zu tun, es müsste sonst wohl „zerrückt“ heißen. Auch für unsere Verhaltensweisen kann es durchaus vernünftige Gründe geben, „verrückt“ zu sein, z.B. weil sich ein bisheriger Standpunkt, den man vielleicht, einer Tradition folgend eingenommen hatte, sich als falsch oder auch nur als überholt erwiesen hat. Soll ich noch auf andere verrückte Situationen hinweisen, im Karneval oder bei sonstigem närrischen Spiel, aus reinem Übermut oder auch, und da sind wir wieder genau bei unserem Thema, in der Kunst? Verrücken heißt also nicht unbedingt, etwas an die verkehrte Stelle rücken, es kann auch mal die richtige sein. In diesem Sinne sind und waren moderne Künstler zu allen Zeiten verrückt, mal weniger mal mehr, und mit dem „mehr“ meine ich unsere Gegenwart. Die „Moderne“ ist zunächst auf Unverständnis, Ablehnung und Verfemung gestoßen, bis sie allmählich nach der üblichen Angewöhnungsfrist zum Durchbruch gekommen war. Vielleicht weniger, weil sie dem Durchschnittsbürger verständlich geworden wäre, als vielmehr, weil Alternativen zu Expressionismus, Abstraktion und Surrealismus nicht in Sicht waren. (Ich bitte um Verständnis für die etwas grobe Vereinfachung) Fast wie einem Naturgesetz folgend, verebbte die künstlerische Kraft der Moderne in den folgenden Generationen und aus den begeistert propagierten neuen Wegen der Revolutionsgeneration wurden bald ausgelatschte und verdreckte Trampelpfade. Nach dem Durchbruch kam die Verflachung. In Ermangelung eigener schöpferischer Impulse hielten sich die nächsten Künstler an die Vorbilder und übernahmen ziemlich kritiklos deren Stilmittel und Ausdrucksweisen in der Überzeugung, dass Kunst erlernbar und lehrbar sei, oder wie eine andere Meinung lautet: Kunst ist alles, was der Mensch macht. Die Frage nach der Qualität bleibt ziemlich irrelevant. In Verkennung der Bandbreite der Beweggründe der ersten Generation blieb für die Nachfolger und Nachahmer als Kriterium nur noch übrig: Kunst hat interessant zu sein, und unter diesem „interessant“ wurde alles „neue“ verstanden. Weil aber alles Neue, wenn es einmal da ist, schon nicht mehr ganz neu ist, muss immer noch Neueres, Exotisches gefunden oder erfunden werden, und weil Sinnvolles nicht mehr gefragt und außerdem mit Mühe verbunden ist, ergeht man sich in phantasielosen aber oft gigantomanischen Albernheiten. Für den unbedarften Kunstkonsumenten bedeutet Kunst den Ort der Freiheit von den sanften, aber bedrückenden wirtschaftlichen und organisatorischen Zwängen der Wohlstandsgesellschaft. Er ist geneigt zu glauben, was in den Medien angepriesen wird, - woher soll er wissen, dass es Kunstschwätzer gibt, die von Kunst nicht mehr verstehen als ein Eunuch von der Liebe und die im übrigen genauso in wirtschaftliche Zwänge eingesperrt sind wie er selber? Diese Sicht der Situation ist zwar fast unerlaubt einseitig und ich müsste mindestens immer wieder „weitgehend“ einfügen, aber dieses „weitgehend“ veranlasst mich doch, auch für die Bedeutung der Kunst in unserer Gesellschaft einen Bildungsnotstand zu konstatieren und zwar einen gewaltigen. Unsere blasierte Spaßgesellschaft nimmt Kunst ja nur in ihrer Funktion als Geldanlage ernst oder missbraucht sie als Statussymbol Im Rahmen des Umbaues der IHK stellte sich mir die Aufgabe, ein verhältnismäßig großes Bild zu malen. So entstand „Die Herausforderung“. Weil das fertige Bild einige Zeit zum Trocknen brauchte, stand es lange bei mir. Ich hatte Gelegenheit, es immer wieder anzusehen und so ließ sich nicht verhindern, dass ich mir meine Gedanken darüber machte. Ein jugendlicher Radfahrer radelt entlang einer im Zickzack geformten, haushohen, langen aber nicht endlos langen Mauer. Abgesehen von den großen aufgemalten Augen, die auf den Radler herabsehen erinnert mich die Mauer an die modernen Industriebauten an der Autobahn in der Gegend um Bologna. Es ist nicht zu ersehen, ob die Augen den Radler oder den Beschauer des Bildes überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wir sehen den Radfahrer von hinten, Dass er eine schwarze Hose an hat und ein dezent rotes Hemd ist wohl nur von formaler Bedeutung, damit auch etwas Farbe ins Bild kommt, denn außer den weißen Wänden ist sonst nur der graue Asphaltboden und der ebenfalls graue Himmel zu sehen, der sich nach oben gelblich aufhellt und sich nach unten, vor allem an dem Stückchen Horizont, das die Mauer freilässt, dunkelblaugrau verfärbt, was aber durchaus nicht bedrohlich wirkt. Der junge Radfahrer gibt dem Bild einen sympathischen menschlichen Bezug, allerdings wirkt er in dieser deprimierenden Industriewüste etwas verloren und fehl am Platz. Ein Auto oder mehrere wären an diesem Ort zeitgemäßer, aber halt anonymer. Bei einigem Hinsehen gewinnt man den Eindruck, dass der Radler nicht besonders zielstrebig durch die Gegend gautscht, man glaubt zu sehen, wie er die Pedale tritt und die Räder sich drehen. Dass sein Fahrrad keine Kette hat, fällt nicht weiter auf, ein gemaltes Fahrrad kann auch ohne Kette fahren, hat sich der Maler gedacht, und Ketten malt er nicht gern. Was hat es denn mit dieser Mauer auf sich? Eine Mauer bedeutet immer eine Grenze auch wenn sie aus Glas ist. Und wer hinein oder durch will, sucht einen Eingang. Aber die hat ja gar keinen Eingang. Man kann wirklich nicht vermuten, zu was sie gut sein soll. Sollen die Augen vielleicht bedeuten, dass man nicht unbeachtet hier eindringen kann oder ist das Ganze vielleicht nur eine Attrappe aus Pappe? Als ich mir überlegt habe, was ich Ihnen heute zu diesem Bild erzählen könnte, meinte ich, ich sei voller Ideen. Es drängen sich ja so viele Fragen auf: Was soll diese eintönige Gegend und wie kommt der Radfahrer dahin, was will er überhaupt? Warum hat sein Fahrrad keine Kette und fährt trotzdem? Die vorher gegebene Antwort befriedigt nicht ganz. Warum macht der Radler einen so gleichgültigen Eindruck? Das sieht man ihm ja von hinten an. Er müsste doch wenigstens verunsichert sein! Soll das Bild ein Gleichnis sein für eine Situation, die der eine oder andere oder die meisten so empfinden können: Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Wir wissen nicht, was wir sollen. Wir wissen auch nicht, was Zeit ist. Wir wissen auch nicht, was Materie ist. Auch nicht, was vor dem Anfang war und können uns nicht vorstellen, wie das Ende aufhört. Wir wissen letzten Endes gar nichts, aber das wusste schon Sokrates. Das ist alles klar bzw. unklar und gibt genügend Anlass, sich seine Gedanken darüber zu machen und ein Bild zu malen, das die Verlorenheit und Ratlosigkeit des Menschengeschlechts eindrucksvoll zur Darstellung bringt. Darum ging es mir aber nicht. Es gibt Leute, die wie ich viel Mühe darauf verwenden, nicht eingebildet zu sein oder wenigstens nicht eingebildet zu scheinen. Manchmal gelingt es mir, jetzt gerade aber nicht. Ich bilde mir nämlich ein, das Bild, das ich da gemalt habe, sei schön. Nicht schön, so wie man das halt so hinsagt, sondern schon ein bisschen mehr. Die Frage, die mich interessieren könnte, ist nun nicht etwa, wie dick die Mauer ist und warum das Fahrrad keine Kette hat, sondern woher es kommt, dass man dieses Bild, das man zunächst eher als befremdend und ausweglos bedrückend empfindet, als so schön empfinden kann. Vielleicht weil es ein Zeichen für Hoffnung ist. |