Das 20. Jahrhundert
Rede von Wolfgang Lettl
am 18.12.1999
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Freunde,
wir sind gewohnt, die "runden" Geburtstage wichtiger zu nehmen als die anderen,
und verbinden mit ihnen die Vorstellung, es beginne jeweils ein neuer Lebensabschnitt,
und mit 80 ist man dann endgültig alt.
Dieses Denken in Zeitabschnitten, in Jahrzehnten und auch Jahrhunderten bestimmt
unsere geläufige Einteilung: 1000 Jahre, von 800 bis 1800 dauerte das Heilige Römische
Reich, und unser unseliges 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der gewaltigen technischen
Fortschritte und des Massenmordens. Und irgendwie stimmen diese Einteilungen sogar,
und wenn nicht, dann bilden wir es uns wenigstens ein und trauen uns hoffen, daß das
nächste Jahrhundert besser wird, und fürchten doch, es könnte noch schlechter werden.
Bei mir persönlich fällt das Ende des achten Lebensjahrzehnts mit dem Ende des
Jahrtausends nicht ganz genau, aber ziemlich, zusammen, auch wenn man, wie es wohl
richtiger wäre, das 3.Jahrtausend erst am 1.1.2001 anfangen ließe.
Schon seit früher Jugend verband sich in mir die Vorstellung vom zu erwartenden
Lebensende um die 80 herum mit dem Begriff "Endzeit", nicht gerade mit
Weltuntergangserwartungen, obwohl ich auch die nicht ganz ausschließen konnte,
denn mir scheint doch sicher, daß die Menschheit oder die Erde oder beide zusammen
irgendeinmal an ihr Ende kommen müssen. Während für Menschen früherer Zeiten
Katastrophen und Himmelserscheinungen als Vorboten der Apokalypse herhalten mußten,
wobei sowohl die Angst vor dem zu erwartenden Schrecklichen, als auch die Hoffnung auf
die baldige Erlösung von allem Übel, die Phantasie lähmten oder anregten, von mehr
oder meist weniger ernst zu nehmenden Prophezeiungen inspiriert, sieht unsere Generation
die Lage in anderem Licht. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglicht auf
seine Weise den Untergang, dem wir im 2. Weltkrieg knapp entgangen sind. Die Bedrohung
besteht weiter, auch wenn wir uns schon daran gewöhnt haben.
"Endzeitstimmung" besagt aber nicht nur eine mehr oder weniger vage, gefühlsmäßige,
unkontrollierte Depression wegen des möglichen Untergangs der Welt, sondern begleitet
auch den Niedergang von Kulturen, oder auch deren Entleerung, Verflachung oder Ermüdung.
Das 19. Jahrhundert bietet ein Beispiel für eine solche Entwicklung: An seinem Anfang
heroische Aufbruchstimmung, am Ende biedermeieristische Verspießerung mit Geniekult und Wagnerschwulst,
Größenwahn, Verunsicherung und Überdruß.
Auch unser Jahrhundert begann verheißungsvoll.
Ich laufe jetzt Gefahr, allzusehr zu vereinfachen oder meinen eigenen Standpunkt
herauszuhängen, aber man sehe mir das nach, denn ich bin ja kein Kunsthistoriker,
sonst könnte ich nicht malen. Maler sind nun mal notwendigerweise einseitig, wenn sie
das nicht wären, müßten sie auch die Rückseite ihrer Bilder bemalen,
aber Sie dürfen mir
glauben, daß ich keine Ahnung habe, wie die Gegenstände, Räume und Personen auf meinen
Bildern von hinten aussehen könnten. Eigentlich ist es eine Unverschämtheit, dem Beschauer
nur eine Seite zu zeigen und alles andere nicht, aber das ist nun mal so bei den Malern.
Bei den Politikern ist es anders.
Also: Am Anfang des Jahrhunderts steht die "Moderne", und obwohl ich mich noch erinnern
kann, wie ich zum ersten mal eine Semmel sah, und wie ich immer Brotsuppe essen mußte mit
bitteren schwarzen Zwiebeln, weil es keine Butter gab, erinnere ich mich der ersten
Nachkriegsjahre als einer glücklichen Zeit. Irgendwie lag es in der Luft: Freiheit,
Friede, Hoffnung. Und die Kunst der Expressionisten sprach vom Aufbruch zu neuer
Menschlichkeit.
Dann kam die Nacht der Barbaren und Unmenschen.
Aber keiner irgendwelcher Unmenschen, sondern unserer Mitmenschen.
Natürlich nicht unserer jetzigen Mitmenschen, sondern der damaligen.
Die jetzigen bauen Holocaust-Gedenkstätten.
Dann kam der Wiederaufbau und mit ihm lebte auch die Moderne Kunst wieder auf.
Nicht unbedingt mit der stürmischen Begeisterung der Anfänge aber mit um so mehr
Geschäftssinn.
Kunst an sich hat einen guten Ruf.
Sie hebt den Menschen über sich hinaus, sie deutet den Sinn des Lebens und das Verhältnis
zu Gott und seiner Schöpfung. Aber die Moderne hatte vor dem Krieg nicht die Zeit und die
Möglichkeit, sich einem breiten Publikum gegenüber verständlich zu machen.
Kunst ist aber ihrem Wesen nach zunächst immer weitgehend unverständlich neu und muß
erst begriffen werden können. Kunst war einmal die selbstverständliche Form der
Begegnung mit Gott, auch die edelste Form des menschlichen Miteinander.
Gottesdienst und Mitmenschlichkeit bedingten einander.
Wir leben in einer zutiefst materialistischen Welt, von Gott zu reden wird fast als unpassend
empfunden, es sei denn, es geschieht von Berufs wegen und mit dem passenden Zungenschlag.
Also reden wir lieber übers Geld.
Auch die Kunst braucht Geld, weil Künstler auch essen müssen. Geld ist überhaupt
eine sehr nützliche Erfindung, es ist unersetzbar für das Zusammenleben der Menschen
und der Menschheit, auch für das Funktionieren des Kulturbetriebs.
Aber wenn Geld der oberste Wert ist, und unsere Gesellschaft ist nahe daran,
daß alles sich ums Geld dreht, dann stimmt etwas nicht. Wenn Kunstgegenstände gehandelt
werden als Spekulation für Geldanlagen, dann stimmt etwas nicht, und wenn Künstler nur
noch nach Geld schielen, auch nicht.
Wo Geld für jedes Bestreben der Menschen das höchste Maß ist, können allerlei Maßnahmen
zur Förderung der Kunst nicht viel nützen, Kunst läßt sich nicht mit Geld machen.
Kunst läßt sich überhaupt nicht machen, Kunst ist ein Teil des Schöpferwillens Gottes.
Der Mensch dient nur als Handlanger, und wenn er es gut macht, oder sagen wir besser:
wenn ihm das von Fall zu Fall gelingen sollte, ist das kein Grund zu Überheblichkeit,
sondern zur Demut.
Was uns das nächste Jahrhundert oder gar Jahrtausend bringen wird,
wissen wir nicht, vermutlich verändert sich fast alles auf unvorstellbare Weise
und in einer Schnelligkeit, die unser 20.Jahrhundert als behäbige Idylle erscheinen läßt,
es scheint bald alles machbar zu sein.
Die Generationen die die gestaltenden Kräfte stellen werden sind anders als wir,
haben andere Möglichkeiten und andere Vorstellungen und andere Bedrohungen.
Den Anbruch meines persönlichen neuen Lebensjahrzehnts kann ich mir schon eher vorstellen,
zumal es sich ja mit einer langwierigen Krankheit schon angekündigt hat, was ich bisher
von mir nicht gewohnt war. Und da verschieben sich manche Maßstäbe. Was wichtig war,
ist nicht mehr wichtig; die Zeit, zuvor fast unermeßlich, schmilzt auf eine kurze Frist
zusammen, die Gegenstände der Welt scheinen in ein unwirkliches Licht getaucht, ihrer
Substanz beraubt, wie Kulissen auf Abruf.
Malen kann ich immer noch, oder schon wieder, seit ich mit der Zeit wieder gelernt
habe mich zu bewegen. Nur der rechte Arm funktioniert noch nicht ganz.
Deshalb habe ich in die Zimmerdecke über meiner Staffelei einen Ring eingeschraubt und
ein Band durchgezogen. An dem einen Ende des Bandes hängt ein Werkzeugkasten und am anderen
ist eine Schlaufe, durch die stecke ich meinen rechten Arm. Wenn ich den locker lasse,
zieht ihn das Gewicht des Werkzeugkastens nach oben. Das geht so gut, daß ich schon
ein paar mal vergessen habe, den Arm in die Schlinge zu legen, und es ging trotzdem.
Jetzt dann wäre eigentlich allgemeines Händeschütteln am Platz und ich dachte,
mit meiner Armhebevorrichtung ließe sich das schon machen. Aber das ist doch zu
kompliziert und deshalb bitte ich Sie mich zu schonen und von händeschüttelnden
Gratulationen Abstand zu nehmen. Es geht auch so. Ich danke ihnen allen, die mich
mit ihrer Liebe und Freundschaft auf meinem Lebensweg begleitet haben, von ganzem Herzen.
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