Irrigma

Rede von Wolfgang Lettl
zur Eröffnung der Ausstellung im Lettl-Atrium
Museum für surreale Kunst - Augsburg

am 6. November 1996


schon in frühester Jugend fühlte ich mich Napoleon verbunden.
Er war mein Idol. Ich kannte ihn von einem bunten Bildchen her, aus dem mir der Kaiser mit kindlichem Gesicht, blauäugig-majestätisch entgegenblickte, und ich bildete mir ein, zwischen seinem und meinem Aussehen Anzeichen von Ähnlichkeit feststellen zu können.
Immer, wenn ich mir beim Frisör die Haare schneiden lassen mußte, betrachtete ich im großen Spiegel mein Antlitz und prüfte, wie weit es mir schon gelungen war, meine Züge denen des großen Napoleon anzugleichen.
Mit der Lektüre von Wilhelm Busch traten neue Gesichtspunkte in meine bis dahin optimistisch-statische Weltsicht. Den berühmten Prolog zu "Max und Moritz" darf ich als bekannt voraussetzen. "Aber wehe, wehe, wehe," ruft da Busch, "wenn ich auf das Ende sehe" und lenkt das Augenmerk seiner Leser ganz klar und unausweichlich auf die Zukunftsperspektiven als die Folge des Handelns in der Gegenwart.
Zusammen mit der Feststellung, daß meine Gesichtszüge ohnehin allmählich, aber immer eindeutiger eine andere Richtung einschlugen als die napoleonischen, verblaßte meine Faszination durch den Kaiser.

Er kam schließlich als Vorbild nicht mehr in Frage, ja er wurde mir mit fortschreitender Geschichtskenntnis immer unsympathischer, welches Schicksal er übrigens mit den meisten Feldherrn und anderen Machthabern und Machthäberles teilen muß.
Meine stille Bewunderung hatte sich inzwischen einer Dame zugewandt, die mir mit blendend weißem Gebiß aus einem Plakat für Chlorodont freundlich entgegenlächelte. Ach, war die schön.
Aber Napoleon habe ich dennoch nicht ganz vergessen, und eines rechne ich ihm hoch an:
Er soll einmal gesagt haben: "Wer jemandem die Zeit stiehlt, der gehört genau so eingesperrt wie jeder gemeine Dieb."
Weil das auch meine Meinung ist, will ich im Folgenden versuchen, mich so kurz wie möglich zu halten.

Meine Ausstellung neuer Bilder läuft unter der Bezeichnung "Irrigma".

Was soll "Irrigma" heißen?

Es liegt mir fern, Ihnen weismachen zu wollen, dies sei ein besonders idealer oder auch nur einigermaßen glücklich gewählter Titel. Aber ich habe lange nach einem Wort gesucht, nach einem Namen, der irgendwie passend klingt; schließlich wollte ich mich nicht der phantasielosen Nüchternheit einer bloßen Numerierung oder Datierung unterwerfen, das hätte ich als unpassend gefunden, als Kapitulation vor mir selber.
Nach langem Hin- und Herüberlegen kam ich zur Einsicht, daß es weit schwieriger sein kann, einen Namen für mehrere Bilder zusammen zu finden, als nur für deren eines, wie ja immer, wie allgemein bekannt, es ja fast oder ganz unmöglich ist, mehreres oder mehrere unter einen Hut zu bringen.
Der Anfang des schließlich zusammenkonstruierten Wortes "Irrigma" soll darauf hindeuten, daß das damit Benannte irgend etwas mit "irr" oder "irre" zu tun hat, und ich wage zu behaupten, daß in der Tat die ganze Ausstellung einen "irren", oder lassen Sie mich sagen "verwirrenden" Eindruck hinterlassen kann.
Diese Feststellung bedarf der Erläuterung. Ist doch unsere Sprache, ich meine die Wortsprache, nie ganz eindeutig. und sollte sie es jemals sein oder gewesen sein, so war und ist das nie eine Angelegenheit von langer Dauer, denn wie alles Lebendige ist auch Sprache dem steten Wandel unterworfen.

"Irr" bezeichnet zunächst den schwer krankhaften Zustand eines geistigen Defekts, als auch den einer leichten, meist vorübergehenden Verwirrung ohne bleibende Folgen. "Irr" kann man auch spielen - im Irrgarten z.B., oder im Spiegelkabinett. Davon vielleicht abgeleitet, könnte das aus dem Halbstarkenjargon stammende "irr" oder "irre" als positiv gewerteter Kraftausdruck mit höchster Anerkennungstendenz zu verstehen sein. Derart verschiedener Sinn, solches Umkippen der Bedeutung, zunächst meist in der Vulgärsprache, ereignet sich von Mal zu Mal und trägt mitunter Züge einer Geheimsprache für Jugendliche, die von der vorausgehenden oder nachfolgenden Generation oft nur schwer oder nicht mehr verstanden wird und zu Mißverständnissen Anlaß geben kann.

Zum Beispiel: In einer Eintragung des Besucherbuchs im Atrium werde ich als "Riesensau" bezeichnet, in Klammern "im positiven Sinn".

Ich, Angehöriger der älteren Generation, kannte bis dahin eine "Riesensau" nur mit sehr negativem Vorzeichen, doch ließ ich mich gern eines Besseren belehren:
Auch hier handelt es sich um einen typischen Fall von Bedeutungswandel, der so überraschend auch wieder nicht ist und auch nicht plötzlich über uns hereingebrochen ist, "saugut" war nämlich schon zu meiner Zeit üblich, und wer schon einmal Skat gespielt hat weiß, daß mitunter der höchste Trumpf "die Sau" ist, nämlich die Schell-As mit dem Konterfei eines Wildschweins .

Ich will noch darauf hinweisen, daß "irr" als Vorsilbe bei aus dem Lateineschen übernommenen Fremdwörtern bei meinen Überlegungen keine Rolle gespielt hat. Es hat eine ganz andere Funktion als das hier gemeinte "irr", nämlich etwa die selbe Bedeutung wie die Vorsilbe "un" bei einem deutschen Wort. "Irr" und "un" können aber nicht durch einander ersetzt werden: Unkraut ist kein Irrkraut und Unfug kein Irrfug, gleichermaßen aber umgekehrt werden die Irrfahrten des Odysseus keine Unfahrten. Irrsinn mit Unsinn gleichzusetzen wäre trotz der verhältnismäßigen Nähe der beiden Begriffe zueinander ein Irrtum - kein Untum. Unsinn, ja Unfug aber wäre es, Irredentisten mit geisteskranken Zahnärzten irgendwie in Verbindung bringen zu wollen.

Mit der zweiten, etwas längeren Hälfte von "Irrigma" hat es eine ganz andere Bewandtnis. "Igma" ist kein selbständiges Wort, sondern der Teil eines Wortes, das hintere Stück des schönen Wortes "Enigma".
Normalerweise bin ich etwas sauer, wenn Gelehrte oder Dreiviertelgelehrte glauben, sich in einer Sprache ausdrücken zu sollen, die ich Ungelehrter nicht verstehe, und das, obwohl sich das Auszudrückende ebensogut auch deutsch sagen ließe. Es ist mir lästig, immer wieder nachzufragen: "Was heißt das?", um dann möglicherweise doch nur zu erfahren, daß es gar so wichtig auch wieder nicht war.

Aber es gibt Ausnahmen.

"Enigma" ist eine. "Enigma" ist unersetzbar. "Enigma" hat mich schon beim Erstenmallesen fasziniert. In diesem Wort spürte ich Weite, Unerforschbarkeit und doch wieder Geborgenheit im Unverstehbaren. "Enigma" vermittelt eine Ahnung der gewaltigen, chaotischen und schöpferischen Kräfte aus dem Erdinneren. Und weil es bei Schriften über Surreales und Surrealismus gar so oft vorkommt und weil es so geheimnisvoll klingt, habe ich im Lexikon nachgeschlagen:"Enigma" heißt "Rätsel", "enigmatisch": "rätselhaft".
Ich war etwas desillusioniert. Soll das wirklich das selbe sein?

Ich sprach vorher von einem Wandel in der Wortbedeutung. Während aber, wie gezeigt "irre" und "Sau" ins Positive umgewertet wurden, kann man im Fall "Rätsel" nicht umgekehrtermaßen von einer Abwertung reden. "Rätsel" ist und war nie ein glückliches Wort, ist nur eine Verlegenheit. "Rätsel" kommt von "raten", das legitime Substantiv von "raten" aber heißt "der Rat" und "der Rat" ist ganz was anderes, klingt auch ganz anders als "das Rätsel" mit dem geschlechtslosen "das" vorndran und dem läppischen "sel" als Anhängsel. Warum haben wir denn im Deutschen gar kein angemessenes Wort für die großen Fragen?
Bei "Rätsel" fällt mir spontan nur "Kreuzworträtsel" ein, ein Frage- und Antwortspielchen also, nicht einmal Denksport, nur gut zum Zeittotschlagen, bei dem man sich unter Zuhilfenahme eines Atlanten und eines Verzeichnisses der Autokennzeichenortsangaben, zwecks Befriedigung des Anspruchs wenigstens ein bißchen gescheit sein zu wollen, ziemlich einfach seinen bescheidenen Intelligenzquotienten selber bestätigen kann.

Nicht nur "Rätsel", sondern alle Wörter mit der Endung "sel" dran, klingen etwas müde, ins Bedeutungsschwache, nicht sehr Ernstzunehmende abgewertet; das Kreuzworträtsel beschert uns keine schlaflosen Nächte.
Was war doch z. B. das altgermanische, Mark und Bein erschütternde "Wui!" für ein Schreckensruf, und was ist dagegen unser heutiges, zahnloses "wuiseln". Von "Bröseln" wird man nicht satt, "nieseln" ist kein Wolkenbruch und "bieseln" ist kein Wasserfall.
Was hingegen verbirgt sich hinter "Enigma"?

Keine Spielerei aus der "Rätselecke" sondern das Wissen um das Viele, das wir nicht wissen können, das Nichtwissen um das, was Wahrheit ist, der Schleier, der zerreißt, wenn wir ihn lüften wollen - wenn ich mich recht erinnere - die Weltenrätsel, um deren Lösung wir uns vergeblich bemühen, weil sie unser Fassungsvermögen übersteigen - die auch gar nicht gelöst werden sollten, weil das Geheimnis höher steht als das Entdecken und gar als das Darinherumschnüffeln.
Wenn ich mir´s genau überlege und wenn ich mich nicht täusche, liegt jeder Kunst in irgendeiner Bedeutung "irres" und "enigmatisches" wesensmäßig zugrunde. Im klassischen Surrealismus und auch in meinen Bildern wird es zum eigentlichen Bildthema erhoben.

Warum? - Augenscheinlich liegt das an unserer Zeit.

Doch die Beantwortung dieser Frage ist nicht mehr Thema meiner Rede, die nur zeigen wollte, wie ich auf "Irrigma" kam. Vielleicht ist es gar nicht einmal der schlechteste Titel für diese Ausstellung. Ich höre jetzt auf - lassen wir die Bilder sprechen.